„Good American Family“ ist irgendwas zwischen Drama, Thriller und aufklärender Doku und jede einzelne Sekunde lohnt sich zu schauen.

Kristine Barnett ist eine strahlende Samarita in goldener Rüstung. Regelmäßig setzt sie sich für benachteiligte Kinder ein, hat sogar eine eigene Kindertagesstätte für kleine Wesen mit besonderen Ansprüchen. Nachdem die Adoption eines kleinen Mädchens scheitert, läuft es zwischen Kristine und ihrem Mann Michael nicht mehr besonders gut. Als sich also erneut die Chance ergibt, eine Tochter zu adoptieren, ergreift Kristine diese Chance. Doch mit Natalia kommt die „Kinderflüsterin“ an ihre persönlichen Grenzen. Keine ihrer Taktiken funktioniert und ihre Großmütigkeit wird auf die Probe gestellt. Irgendetwas scheint zwischen ihr und Natalia nicht zu stimmen. Immer wieder geraten sie aneinander, während Michael vermehrt Partei für Natalia ergreift.
Die Story wird aus den verschiedenen Perspektiven der Hauptfiguren erzählt. Dabei schwankt man bei jeder einzelnen Person immer wieder zwischen Mitleid und Entsetzen. Die Autoren spielen gezielt mit den Gefühlen der Zuschauer, um aufzuzeigen, dass jede Geschichte mehrere Seiten hat und Menschen hochkomplexe Wesen sind. Die Vielschichtigkeit von Emotionen kommt klar zum Ausdruck, denn die Schauspieler leisten alle eine wahnsinnig gute Arbeit. Wut, Trauer, Verzweiflung – all das kauft man ihnen ab und sogar noch mehr. Man gerät regelrecht in einen Sog, der die eigenen Emotionen aktiviert.
Die Erzählstruktur ist toll inszeniert. Wir erfahren von zwei Zeitsträngen, 2010 und 2019, die beide jeweils Plottwists beinhalten. Es ist zwar eher eine persönliche Vorliebe, aber das Voiceover ist fantastisch und macht die Serie im allgemeinen noch spannender. Als Zuschauer kann man sich noch viel mehr in die Protagonistin einfühlen, ihr Gedanken und Gefühle nachvollziehen. Besonders spannend wird es, als wir zum ersten Mal von Kristines point of view zu dem von Natalia wechseln. Wir kehren nicht in der Zeit zurück und erfahren somit auch nicht, wie die ersten Adoptionsjahre in Natalias Augen verliefen. Die Ereignisse laufen chronologisch weiter, doch es beginnt sich eine große Diskrepanz zu zeigen, die einen als Zuschauer noch mehr an die Serie bindet.
Die Metaebene, die durch die Erwähnung des Films „Orphan“ aufgemacht wird, wirkt zunächst zynisch, gibt jedoch einen Denkanstoß für die Zuschauer. Vielleicht war genau diese Verknüpfung bereits in den Köpfen, doch sie eine Figur der Serie laut aussprechen zu lassen, ist stark.

Ab hier muss ich leider ein wenig spoilern, denn anders könnte man meine Bemerkungen sonst nicht mehr nachvollziehen. Nach dem nächsten Kasten geht es wieder neutral weiter.
Die Anspielung auf den Film aus dem Jahr 2009 von Jaume Collet-Serra kommt von Val, Kristines (bester?) Freundin. Genauso wie wir durchlebt sie einen Wandel in ihrem Denken mit voranschreiten der Serie. Sieht sie Kristines Schilderungen zunächst bestätigt, bekommt sie dann doch mit jeder Folge mehr Zweifel an dieser Version. Am Ende wendet sie sich sogar von ihrer langjährigen Freundin ab, weil sie es einfach nicht mehr aushält. Während der Gerichtsverhandlungen und auch in den Medien hörte sie immer wieder Natalias Erzählungen von diversen Misshandlungs-Vorfällen. Und auch wenn Natalias Alter bis zuletzt nicht zurück gesetzt wird, spricht die Beweislast doch sehr eindeutig gegen Kristine.
Was davon ist jetzt aber wirklich so passiert und was wurde nur zu Unterhaltungszwecken dramatisiert?
Betrachten wir einmal kurz die realen Fakten. Natalia Grace, die Barnetts und auch die Mansens gibt es wirklich. Natalia wurde laut eburtsurkunde 2003 in der Ukraine geboren und 2010 von den Barnetts adoptiert. Schon schnell nach der Adoption äußerten die Barnetts Zweifel an Natalias Alter, die sie sowohl auf körperliche als auch charakterliche Merkmale zurückführten. 2012 ließen sie dann Natalias Geburtsjahr auf 1989 setzen, ohne dass sie selbst befragt oder auch nur rechtlich vertreten wurde. Da ihre Adoptivtochter nun gesetzlich eine Erwachsene war, ließen sie sie in einer eigenen Wohnung, während sie mit ihren leiblichen Kindern nach Kanada zogen. Dies führte dennoch zu einer Untersuchung wegen Vernachlässigung. Michael Barnett wurde 2022 freigesprochen und auch die Anklage gegen seine Frau wurde 2023 fallengelassen. Neuere Berichte sagen, dass Natalia in der Zwischenzeit einen epigenetischen Alterstest durchführen ließ, der mit dem Geburtsjahr 2003 vereinbar war. In der Zwischenzeit wohnte sie bei den Mans‘, was auch nicht konfliktfrei verlief. Die Barnetts betonen auch weiterhin ihr angeblich aggressives Verhalten und drohende Gewalt, während Natalia diese Darstellungen zurückweist und von Misshandlung berichtet. Rechtlich wurde Natalias Alter (nach der Änderung auf 1989) eine Zeit lang so behandelt, dass Vernachlässigungstatbestände nicht als „Kindsvernachlässigung“ bewertet werden konnten, was das Verfahren gegen die Barnetts erschwerte.

„Good American Family“ beleuchtet wunderbar beide Seiten der Geschichte, ohne Missbrauch zu verharmlosen oder einer Version die vollständige Wahrheit zuzusprechen. Die Serie ist toll für Erwachsene, die beim fernsehen gern mitdenken und ein Interesse für filmisch aufbereitete Fragen mitbringen. Wer allerdings das Schauen von Serien als Eskapismus sieht und nebenbei abschalten und runterkommen möchte, sollte sich eher für etwas anderes entscheiden.


Hinterlasse einen Kommentar